Özilierende Digitalisierung

Mesut Özil will nicht mehr für Deutschland spielen. „Dann geh doch zu – Erdogan!“, möchte man schreien, aber wie so oft, ists halt nicht so einfach. Das bekrittelte Foto (eigentlich sind es mehrere), so scheint es mir, entstand aus schlichter Naivität. Sich mit einem despotischen Präsidenten ablichten zu lassen, schien die beiden Fußballer Gündogan und Özil nicht stören, im Gegenteil, die Jungs sehen einigermaßen stolz aus. Wen wunderts – mit Despoten und Menschenrechtsverletzern hats der Fußball ja schon eine geraume Weile.

Jetzt interessiert mich Fußball rein gar nicht. Ob nun die Nationalmannschaft schlechter spielen wird oder gespielt hat, ist wohl nur am nicht mehr vorhandenen Stammtisch von globaler Relevanz. In der aktuellen Konstellation mit dem deutsch-türkischen Verhältnis ists halt leider doch politisch. Erdogan für einen guten Präsidenten zu halten oder seinem Handeln unkritisch zu begegnen, ist unter Deutschtürken leider nichts Seltenes. Ebenso der Rassismus- oder Nazivorwurf, der auf kritische Worte folgt. Nationalstolz und Ehre zeigen sich eher als Ausdruck geistiger Schlichtheit, denn als Zeugnis einer gesunden Selbstreflexion.

Umso erfreulicher war es heute morgen, einen Beitrag von Susanne Gaschke im Deutschlandfunk Kultur zu hören: Lesen ist eine unverzichtbare Kulturtechnik.

Wahrlich keine neue Erkenntnis. Nachdem ich mich derzeit verstärkt mit dem Unterrichten an der Schule beschäftige, ist das ein Beitrag zum laut „GENAU“ schreien. Die Forderung nach der Digitalisierung der Schule ist mit großer Sicherheit irgendeinem industriebeeinflussten Hohlsprech wichtigtuerischer Politik entsprungen, denn das Digitale bietet weder neue Inhalte, noch vereinfacht oder erleichtert es den Unterricht.

Als Freund der Handschrift (Jules van der Ley hat dazu Einiges veröffentlicht, z.B. https://trittenheim.wordpress.com/2018/02/03/theorie-und-praxis-der-handschrift-1-die-schriftzumutung/) und des manuellen Arbeitens, weiß ich, wie gut diese analoge Arbeitsweise mit Buch, Papier und Stift dem Verstehen und eben Begreifen dient. Das ist nicht nur eine Meinung oder Erfahrung. Den wissenschaftlichen Nachweis bleibe ich zwar schuldig (wer mehr weiß, bitte her mit den Studien), kann aber feststellen, dass anscheinend alleine der Besitz eines Smartphones genügen kann, um aus einem halbwegs vernünftigen Menschen einen süchtigen, hirnlosen Vollpfosten oder natürlich auch eine Vollpföstin zu machen. Man denke nur an sogenannte Handyampeln. Jetzt dem ohnehin dauerdaddelnden Schüler auch noch Tablets in die Hand zu drücken und damit sie noch länger diesem Glücksspielautomaten auszusetzen, ist aus meiner Sicht fatal. Wie beim Schlaufon auch ist alles auf Unterhaltung und schnelle Belohnung unserer Lustzentren ausgelegt. Wie soll da ein junger Mensch als Lese-und Schreibanfänger, einem längeren Text folgen, wenn keine Belohnung durch tolle Sounds und bunt flackernde Bildschirmakrobatik erfolgt? Da wird die Digitalisierung zur Idiotisierung.

Özilieren: naiv, leichtfertig oder sogar mutwillig eine Dummheit begehen, zurücktreten und laut „Rassisten“ schreien. Siehe auch Fußball/-er-terrorismus oder Medienverstopfung.

Özilation, Özilator, özilatorisch, Özilograf, Özilogramm, Özilometrie, Öziloskop (für präventive Öziloskopien)

Nochn link, armes Opfer: https://www.deutschlandfunkkultur.de/mesut-oezil-wie-ein-hoechstbegabter-zum-fremden-gemacht.1005.de.html?dram:article_id=423651

Momo und Prankbros: Mit einfachen Dingen lassen sich gefährdete Jugendliche wochenlang beschäftigen, da sind sie wenigsten weg von der Straße.

10 Gedanken zu “Özilierende Digitalisierung

  1. Eine Studie würde auch nicht anderes erbringen, als was als tägliche Erfahrung in die Sprache eingeflossen ist: „Begreifen“ hat etwas mit greifen zu tun, ist also ein haptischer Vorgang. Möglicherweise entwickeln sich unter dem Einfluss der digitalen Medien andere Mechanismen des Verstehens, doch als anthropologische Konstante ist die Voraussetzung zum Verstehen das anfassende Begreifen. Ein zweidimensionaler Bildschirm erlaubt nur das Wischen bzw. Verwischen.

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      1. ach, und, sah ich heute mittag am zeitungskiosk. die bild titelte özil: jammerrücktritt, auch einen schöne wortschöpfung

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      2. Der Rücktrittspost wurde von Herrn Ö. aus G. in Englisch verfasst.
        Jammer bedeutet im Englischen „Störsender“.
        Es muss an der Hitze liegen, dass ich hier einen Zusammenhang erdachte.
        😉

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